Blau ist eine Farbe, die ich einst sehr geliebt habe und die mir immer wieder einmal begegnet. Ich denke an die blaue Blume der Romantik; an das englische „blue“, welches Melancholie beschreibt; an blau-machen oder blau-sein, an blaues Blut und Blauäugigkeit.
Die blaue Katze ist mir in meinen Gedanken begegnet und ich war neugierig, was sie mir wohl sagen wollte. Ich modellierte sie, bemalte sie, fotografierte sie und dann fiel mir ein Satz dazu ein: „Die Sehnsucht spricht einen Zauber, dem nur das Herz folgen kann.“ Auch wollte ich hinzufügen: Der Verstand ist blind für diesen Zauber; er bleibt unverständig und abgeschnitten von der metaphorischen Idee. Die blaue Katze erinnert mich an Cheshire aus Alice im Wunderland; sie verdunstet schnell, wenn man sie erklären will, bleibt ungreifbar. Sie taucht in stillen Augenblicken auf, Momente gefüllt mit Ratlosigkeit und leer von Worten.
Sie erzählt vom „Wunderland“ und davon, dass das Wesentliche für den Verstand unsichtbar bleibt. Sie erzählt von einer Welt hinter den Spiegeln, von Zwischenwelten und Fabelwesen; sie ist die Wächterin meiner Phantasie. Wie eine Sphinx ruht sie erhaben am Portal zum Zauberreich. In diesem Land ist nichts wirklich und alles mö glich. Aus ihm stammen die Ideen, die Emergenzen, die Schöpferkraft. Sie ist Quell von Verbundenheit und Liebe, ein Feuerwerk der Lebendigkeit. Aus ihr schöpfe ich tiefen Atem und Sein.
Diese Tür zu verschließen, bedeutet Krieg und Siechtum. Ohne diese Kraft kann nichts wachsen, nichts aufblühen, nichts nahrhaft fruchten. Sie liefert die Saat des Friedens und die Kraft zum Gestalten. Die blaue Katze ist eine Botin, eine Kundschafterin und eine Kämpferin. Sie schnurrt, faucht und spielt mit dir, wenn du sie lässt. Aber sie scheut allzu logische Erklärungen, lineare Modelle, mechanische Vorstellungen. Sie selbst ist eine Zauberin, eine Hexe vielleicht, eine Zaunkönigin ganz gewiss.
Eine Katze trägt drei Namen, den einen mit dem sie täglich gerufen wird, den zweiten der ihr Wesen bezeichnet und den dritten, der unaussprechlich – nur ihr bekannt ist.
Ich sitze auf meinem Bett und weine. Es ist ok, kein Weltschmerz, nur Erkenntnis. Trauer und Enttäuschung gehören zum Leben. Eine Ente wird kein Schwan werden und ein Schwan keine Ente. Dabei ist es gleich, ob ich ein Schwan, eine Ente, ein Pinguin oder ein Papagei bin. Für die „anderen“ wird man immer ein komischer Vogel sein. Jede und jeder von uns sucht nach Heimat, nach seinem eigenen Brutgebiet, nach einem Herzensnest, nach Geborgenheit oder zumindest nach einem warmen Plätzchen, eines, das weniger zugig ist, wo man sein kann, nichts sein muss, wo man atmen kann. Nicht heimlich, nicht mit erhobenem Schild, nicht geduckt oder ängstlich, sondern frei und sicher. Das ist Heimat und mehr braucht es nicht zum Leben, aber auch nicht weniger.
Ich bin auf einem Schlachtfeld aufgewachsen, lebte in einem Flüchtlingsheim ohne beides jemals kennengelernt oder gar betreten zu haben. Es war innen, es umgab mich durch die Erinnerung derer, die mich aufgezogen haben, es wurde mir nahe gelegt durch die unbestechliche Überzeugung meiner Ahnen, unserer Ahnen. Ich lebe in Deutschland. Einem der reichsten Länder der Erde, eines in dem Wohlstand und Demokratie „herrschen“ – und ja, sie herrschen, sie beherrschen uns mit ihrer ständigen Drohung, abwesend zu sein oder verloren zu gehen, mit ihrem ständig erhobenen Zeigefinger. Sie postulieren Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, doch wir leben es nicht. Wir fürchten. Wir fürchten zu verlieren, was wir uns auf die Fahnen geschrieben haben. Wir vergessen, was wir haben, dürfen, sind.
Der Krieg ist vorbei, nur wissen wir es nicht, nicht wirklich. Steven Porges hat einmal gesagt, dass Kontrolle nicht zum Empfinden von Sicherheit gereicht. Kontrolle ist eine Illusion, sie stresst uns, überfordert uns, lässt uns eng und klein werden, verletzt uns, macht uns agressiv… Allein diese Behauptung müsste wohl in epischer Breite belegt werden, um das Geplapper in unseren Köpfen zum Abklingen zu bringen.
Es klingt nicht ab, es wird lauter, bisweilen schreit es, spuckt, geifert, schlägt. Es tönt wortgewaltig brausend, gnadenlos entmutigend, wie Schlachtgebrüll, welches den Soldaten Mut machen soll. Es hilft gegen die Angst, es hilft um den vermeintlichen Feind als solchen zu erkennen und ihn oder sie gnadenlos niederzumetzeln. Es tötet alles, was Leben ist. Dann steht es da, siegreich über dem weiten Feld der Besiegten, leer. Der Soldat, der sich als Krieger sieht, hat längst vergessen wofür er in den Krieg gezogen ist, hat längst vergessen, was Heimat ist und weiß nicht mehr wofür er kämpft, nur noch wogegen.
Ich will schreiben, ja, und auch darin blieb ich unverstanden, auf dem Schlachtfeld braucht man keine Schreiberlinge. Man braucht Erfüllungsgehilfen mit der Feder vielleicht, welche, die die Geschichte eindeutig beschreiben, sie erschaffen, so, dass es klare Fronten gibt. In einem Krieg gibt es weder Sieger noch Besiegte, es gibt nur Opfer. Das, was ein Schreiberling will, was er fühlt und lebt, die Faszination und Liebe für Worte, Sätze und Geschichten, sie ist bedeutungslos auf dem Schlachtfeld.
Ich habe es bereits als Kind geliebt, mir Geschichten zu ersinnen. Sie fragen: „Kann man damit Geld verdienen?“ Vielleicht, aber genau darum geht es nicht! Es geht um die Frage, wie man (er)leben kann. Nicht konsumieren, sich nicht beständig ablenken, nicht überleben, er-leben. Leben in Freiheit und Verbundenheit, wirklich, ehrlich, sinnlich, sinn-voll. Welten schöpfen, wie Bilder aus bunten Farben, wie ein Kind. Spielen, lachen, schaffen, aus Freude am Schöpfen. Mit beiden Armen, mit allen Sinnen, aus Liebe zum Leben, zwecklos sinnvoll.
Eine „Tätigkeit die Belohnung in sich selbst findet“ lässt Axel Brauns seinen Protagonisten sagen. Er ist ein Autist, einer, dem man Wert und Leistungsvermögen abspricht, ein Narr, einer, der nicht „arbeiten“ muss, weil er es nicht kann. Einer der frei ist, weil er nicht um seine Zugehörigkeit kämpfen muss. Sein Platz ist klar. Er steht am Rande der Gesellschaft, der darf das: er-leben.
Schreiben? Ist das nicht so’n Hausfrauenkram? Du willst schreiben? Du? Kann man damit Geld verdienen? Kannst du ja machen, aber die Arbeit geht vor. Man kann ja nicht immer machen, was man will – man muss ja auch mal… Muss man? Ich nicht, gerade nicht, aber pscht… lieber nix sagen. „Neid ist die deutsche Form der Anerkennung“ – sagt Nina George.
Die darf das jetzt, nach 20 Jahren, jetzt ist sie Bestsellerautorin, jetzt hat sie eine Stimme, jetzt, ein bisschen vielleicht. Auch sie lebt von der Sehnsucht der Leute, davon, dass sie besser konsumieren als kreieren können, weil sie leer sind, weil sie ratlos auf dem Schlachtfeld stehen und beginnen, Dinge zu horten für ihre Sicherheit, sich abzulenken vom Schmerz der tiefen Verletzung, der Trauer um all die Verluste. Ihr Vortrag, den ich gestern im Internet gefunden habe, hat mich ermutigt. Ich muss kein Geld damit verdienen, ich muss nicht berühmt werden, ich darf einfach sein, einfach sein! Ich darf schreiben! Anstatt mir buntes Spielzeug zu kaufen, anstatt als Tourist in ferne Länder zu reisen, anstatt mich einer Leistungs- und Konsumgesellschaft zu unterwerfen… lieber heimlich, denn Neid ist vielleicht wirklich die einzige Art der Anerkennung, die man in Deutschland kennt – das Mitfreuen, das Gönnen, das Miteinander-teilen… ach, das wäre schön.
Und die gibt’s ja auch, die, die gestalten wollen, nicht nur wollen, sondern auch tun, unprätentiös – klar, einfach, unaufgeregt. Nur stehen sie selten auf einer Bühne, um sich bewundern zu lassen. Sie haben keine Zeit dafür, im Rampenlicht zu stehen, sie wollen weiter machen, lachen, schöpfen, sein. Man sagt, sie haben es zu nichts gebracht, kein Hab und Gut, kein Ruhm, keine Bewunderung, nur faule leise Freude, nur stille glückliche Zufriedenheit, nur bunte laute Fröhlichkeit und eine für manche schier unerträgliche herzliche Freundlichkeit.
Neid ist die deutsche Form der Anerkennung und Neid ist ein Feuer, eine Abrissbirne, eine Faust. Neid speist sich aus Mutlosigkeit, aus Schmerz, aus Angst. Und so vergönnen wir uns und anderen das Leben. Postulieren Konsum und Leistungsgesellschaft, erhöhen die Eigendrehung und die Geschwindigkeit, begraben uns unter Tonnen von Plastikspielzeug. Rennen viel zu laut über die Kirmes der Ablenkung. Ergeben uns in der Sucht nach Zuckerwatte und Neonlicht. Bestätigen uns gegenseitig: „Man kann ja nicht immer… man muss ja auch mal…“
Stell dir vor, es ist Kirmes und du schwänzt heimlich…
Ein Freund erzählte mir vor ein paar Tagen, dass er zum alljährlichen Martinsmarkt gehen wolle, um dort ein bestimmtes Besteck zu erstehen, welches er am Vortag in der Auslage gesehen hatte. Ich bat ihn daraufhin, mir auch eines mitzunehmen. Leider war es an dem Tag bereits ausverkauft. So weit so gut. Manchmal laufen die Dinge nicht so, wie man sie sich vorgestellt hat und man bekommt nicht das, was man sich ausgemalt hat. Man hat vielleicht jemandem eine Zusage gemacht und kann diese nun aus irgendeinem Grund nicht einhalten.
Als ich nichts weiter hörte, fragte ich nach, ob es mit dem Besteck geklappt hatte. An dieser Stelle wurde dieses kleine Ereignis zum Gedankenanstoß.
Er schrieb mir, dass er das Besteck nicht bekommen, aber es stattdessen für mich im Internet bestellt habe. Diese Geste empfand ich als außerordentlich freundschaftlich und tatsächlich unerwartet. Mir fielen sechs Möglichkeiten für den Verlauf dieses unbedeutend erscheinenden Ereignisses ein:
Er hätte mir schreiben können, dass er es vergessen hätte und Wichtigeres im Kopf hätte, als an mein dämliches Besteck zu denken. – die agressive Variante.
Er hätte mir lapidar mitteilen können, dass er es leider vergessen hätte oder nicht mehr daran gedacht habe. Die übliche Reaktion darauf wäre dann, mit „macht nix, hätte ja klappen können“ zu antworten. – die achtloe Variante.
Er hätte mir sagen können, dass es leider nicht geklappt habe, die Ware ausverkauft gewesen sei. Er hätte mir dann einen Link zum Bestellen des Bestecks schicken können. -die verbindliche Variante.
Er hätte mir sagen können, dass er dort war, es aber leider bereits ausverkauft war und er mir stattdessen das Besteck im Internet bestellt habe. – die freundschaftliche Variante.
Er hätte es auch übertreiben können, sich überschwänglich entschuldigen, mir das Besteck schicken und dazu noch Schokolade oder sonstiges hinzufügen können, um meine vermeintliche Enttäuschung auszugleichen. – die übergriffige Variante
Er hätte mich anlügen können, das Besteck bestellen und es mir zusenden können, ohne zu erzählen, dass es ausverkauft war oder er es vergessen hatte. – die heimliche Variante.
Es gibt immer unzählige Möglichkeiten zu reagieren, etwas zu sagen oder zu verschweigen – vermeintliche Kleinigkeiten, bedeutsame Unterschiede…
Was würden Sie tun? Was würden Sie erwarten, was erhoffen, was befürchten? Was erzählt dies über Sie? Was sagt es über ihre Beziehung(en) aus?…