Schon lange bevor ich von Begriffen wie Raunächte, der wilden Jagd oder gar der fünften Jahreszeit gehört hatte, habe ich die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester immer als eine besondere Zeit wahrgenommen. Meist habe ich diese Zeit irgendwie zu einer Art Reflexion genutzt. Was war dieses Jahr? Was nehme ich mit, was schließe ich ab? Sehr oft ist mit dem Jahreswechsel auch ein Wechsel in meinem Leben eingetreten. Beziehungen begannen oder wurden beendet, Freundschaften entstanden oder gingen entzwei. Warum dies so war weiß ich nicht. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich diesen Umstand überhaupt als solchen erkannt habe und noch länger, bis ich begann, mich mit anderen darüber auszutauschen.
Irgendwann – und das ist noch gar nicht so lange her, ein paar Jahre vielleicht – hörte ich von den Raunächten. Zuerst dachte ich, dass es um raue Nächte gehen würde und vermeinte, es hätte wohl mit harschem Wetter zu tun. Dann las ich einmal nach und fiel fast in das sprichwörtliche Kaninchenloch. Da gab es in zig Regionen eigene Bräuche. Es wurde von dem rituellen Ausräuchern von Wohnungen und Ställen geschrieben und vom Austreiben der Dunkelheit, des Bösen und immer wieder vom Abwenden drohenden Unglücks.
Ich las von der wilden Jagd und davon, dass man, sähe man sie, vom Tod bedroht wäre. Dass man keine Wäsche waschen und auf die Leine hängen sollte, weil die wilde Jagd sich darin verfangen und einen heimsuchen könnte. Ich las, dass in diesen Nächten manchmal die Tiere sprechen könnten. Wer aber die Tiere sprechen hörte, würde danach gleich sterben. Immer wieder gab es unheimliche Geschichten. Ich selbst verband aber etwas sehr Positives und Klares mit diesen Tagen.
Nun ist es seit einiger Zeit wohl auch in Mode gekommen, die Raunächte zu „begehen“ – allerlei Rituale durchzuführen und die 12 Tage symbolisch für die 12 folgenden Monate zu nehmen. Was man also in diesen Nächten träumte oder orakelte, würde sich als Thema auf die jeweiligen Monate übertragen.
Rituale und Bräuche geben soetwas wie Struktur, sie bringen Menschen zusammen, haben etwas Verbindendes. Rituale schaffen Übergänge vom Einen zum Anderen. Da gibt es die Taufe, die Hochzeit, die Geburtstagsfeier, die Jahreszeitfeste, die Abschlussfeier, das Initialisierungsritual oder auch das Feierabendbier… im Kleinen wie im Großen. Wenn etwas 3x erfolgt ist, wird es langsam zur Tradition. Dann erwartet man „es“ bereits. Die Vorgänge erhalten soetwas wie ein eigenes Wesen; sie werden liebgewonnen, zunehmend ausgeschmückt und manchmal sehr gewissenhaft begangen. Wer weiß, vielleicht haben sich traditionsliebende Menschen irgendwann den Umstand des Unglückbringens ausgedacht, weil sie keine vernünftige Erklärung dafür hatten, warum man die Dinge immer auf die gleiche Art und Weise, „richtig“ durchführen müsste.
Meine Idee dazu ist recht unprätentiös. Es schafft eine gewisse Zufriedenheit, ein Gefühl von Kontrolle und Erfolg, wenn man etwas durchführt und es einem gelingt. Es kann Ängste eindämmen, wenn man das Gefühl hat, sein Glück beschwören zu können. Es gibt Menschen (Zusammen-)Halt, wenn sie Dinge gemeinsam in Eintracht tun. Und es entwickelt sich ein gewisses persönlich aufwertendes Expertentum bei denen, die bereits Erfahrung haben. Nicht zuletzt gibt es denen, die kritisch hinterfragen, eine Grundlage, von der aus sie nach Sinn und Zielen fragen können. Kurz: Rituale, Traditionen oder Bräuche haben ihren Sinn und Nutzen.
Ich wähle lieber selbst allen Bräuchen und Traditionen zum Trotz! Als konstruktivistisch denkender Mensch behaupte ich nicht unbegründbar: Was wahr ist, bestimmen wir selbst durch das, was wir für wahr halten… Also beschloss ich einmal mehr, dass ich das nehme, was mir gefällt und gut tut und dass ich (los)lasse, was mich beschränkt und in meinen Augen Übles birgt… Und so schuf ich meine ganz persönliche Tradition für diese Tage zwischen den Jahren. Eine, die ich immer wieder wandle und hinterfrage; eine, die ich gern hier und dort teile; eine die ich selbst bestimme und anpasse.
Es muss nicht immer Sinn ergeben oder Unglück bringen, wenn man etwas nicht tut. Es darf auch einfach den einzigen Sinn haben, dass es mir, dir oder uns gefällt und dadurch ein gutes Gefühl entsteht. Und ich lasse mich auch gern einmal auf die Ideen anderer ein, wenn ich Ihnen damit die Freude des gemeinsamen Erlebens schenken kann.
your choice, take it, take care.