Manchmal sind es ganz kleine Dinge und Ereignisse, die bedeutsame Geschichten erzählen können.
Ich war auf einer längeren Reise. Als Anker und Erinnerung für alle Fälle habe ich immer ein kleines Stück Stoff dabei. Es ist ein Stück einer alten Wolldecke, die mich bereits mein ganzes Leben lang begleitet. Wenn ich traurig bin oder mich einsam fühle, wenn ich irgendwie Heimweh habe, dann tröstet mich das Gefühl der Wolle zwischen meinen Fingern. Es wirkt wie ein Geruch, direkt auf mein Nervensystem, es ist ein Anker der umittelbar Geborgenheit und Trost vermittelt.
Eines Morgens war es weg. Ich habe alles durchsucht, etwa eine halbe Stunde jeden Winkel durchforstet, nichts. In mir stieg eine tiefe Traurigkeit auf, eine kleine Panik, ja fast war es Verzweiflung. Nun gibt es diese Wolldecke noch und ich habe sofort damit begonnen zu überlegen, wie ich an Ersatz herankommen könnte. Wen würde ich darum bitten können, mir ein Stückchen zu schicken? Wer würde es tun, ohne dass ich mich umständlich erklären müsste.
Man sagt, dass sich Gerüche unmittelbar auf unser Befinden auswirken, wir würden sofort Assoziationen haben, gewollt oder ungewollt. Der Geruch von Desinfektionsmittel in einer Klinik, der Geruch von Tannennadeln, Orangenschalen und eben erloschenen Kerzen, ein bestimmtes Parfüm. Es gibt viele solcher Anker, olfaktorische, visuelle, auditive und eben auch haptische.
Das Gefühl dieser bestimmten Wolldecke war mein Anker an Heimat. Nachdem ich vor zwei Jahren meine äußere Heimat fast komplett verloren habe, blieb mir nur diese kleine Erinnerung als eine Art Samen, etwas worauf ich im Letzten zurückgreifen konnte und was mir auch ein wenig Mut gab weiter zu machen. Der Verlust dieses Stöffchens war also quasi der Verlust meiner Heimat.
Mir hat einmal jemand vorgeworfen, dass ich mein Herz an Dinge hängen würde, einen Ehering, eine Figur, ein Bild… Erinnerungsstücke und Symbole. In diesem Vorwurf liegt mehr Gewalt als es zunächst den Anschein haben mag. Es geht nicht um die Dinge, es geht darum, was sie in uns auslösen. Es geht nicht darum „sich ein Bildnis zu machen“ oder den Dingen übergebührliche Macht zu geben, es geht darum, dass die sinnliche Wahrnehmung dieser Dinge in irgendeiner Form Assoziationsketten ermöglichen, die dann wiederum zu bestimmten Gefühlen führen. Eine Art Abkürzung, ein Shortcut zum Organismus.
Mit dem Aberkennen dieser Wirkung und dem Verweigern der tiefen Bedürfnisse eines Menschen nach Schutz, nach Sicherheit und Halt, aber auch nach Freiheit oder Selbstbestimmung üben wir eine tiefgründige Gewalt aus. Wenn wir nicht verstehen, Bedeutsames nicht als solches zugestehen, dann nehmen wir einander die Würde. Es ist sicherlich grausamer, einem Kind das geliebte Stofftier zu verbrennen als ihm im Affekt eine Ohrfeige zu verpassen. Ich möchte betonen, dass es hier nicht darum geht, die Ohrfeige zu banalisieren, nein, es unterstreicht die Massivität emotionaler Gewalt.
Unsere Seelen bleiben immer kindlich in ihrem Bedürfnis nach Bindung und Autonomie. Es ist nicht kindisch, es ist menschlich. Wem dieses Menschliche genommen wurde, der agiert aus dem entstandenen Schmerz heraus manchmal missgünstig. Andere sollen nicht bekommen, was ihnen verwehrt wurde. Diese Missgunst zu akzeptieren, bei sich oder bei anderen, gleicht einer Kriegserklärung an das Leben selbst. Dennoch sind wir es gewohnt. Wir verachten die bedürftige Schwäche, wir veralbern die tiefsten Bedürfnisse und plappern Beschämungen nach. Niemand will zu empfindlich, sein um nicht ausgeschlossen zu werden. Niemand will sich empfindsam oder bedürftig zeigen, um nicht verletzt zu werden. Wo aber führt uns diese Unachtsamkeit hin?
Mein Stöffchen fand ich schließlich wieder. Es hatte sich in einem Pulloverärmel versteckt und mir so diese Geschichte geschenkt. Ich möchte immer achtsam mit meiner und anderer Menschen Heimat umgehen, ich möchte stark darin sein verletzlich zu sein, auch, wenn es mich manchmal anstrengt. Ich stehe dafür. Wofür möchten Sie stehen?
Your choice, take it, take care!