Kontext macht Kunst – über Schreibmelodien und Kindergeschichten

Ich unterhielt mich jüngst mit einer Freundin über unsere Texte. Sie las mir zwei Gedichte vor, die sie geschrieben hatte und ich hatte sofort zwei spontane Assoziationen: eines erinnerte mich an „Morgenstern“ und eines an „Ringelnatz“.
Ich verbinde Texte mit Melodien, Rhythmus, Linien und Gefühlshaltungen, schreibe ihnen quasi intuitiv eine Haltung zu und ordne sie so für mich unterscheidbar ein.
Dies war schon immer so, aber da ich keine Germanistik, sondern eher Psychologie studiert habe, gehe ich etwas anders an die Analyse von Texten heran, als dies im Gemeinsinn wohl üblich ist. Entsprechend ergeben sich andere Thesen, Ideen und Assoziationsketten als die, welche durch bereits bestehende Konstrukte vorgebahnt sind. Dieser eher phänomenologische oder philosophische Ansatz der Betrachtung ermöglicht mir, immer wieder Emergenzen – Entdeckungen, die ich, in Anlehnung an Humboldt, als Bildung im ureigensten Sinne werte.
Es kann sein, dass ich nicht die Erste bin, die etwas entdeckt, für mich aber ist es jedesmal wie das Aufstoßen der Tür in eine faszinierende, reichhaltige Welt. Ich liebe diese Bildungsspaziergänge. Sie entfachen Neugier und Lebendigkeit in mir und erweitern meinen Horizont. Ich möchte dies als Neuronenfeuer im besten Sinne benennen.

So kamen meine Freundin und ich von „Höckschen auf Stöckschen“ und begannen, verschiedene Ausdrücke miteinander zu vergleichen.
Wir bildeten spielerisch eine Reihe, in der wir Rainer Maria Rilke, Joachim Ringelnatz, Erich Kästner, Heinz Ehrhardt und Christian Morgenstern zueinander aufstellten. Wir suchten nach Schreibhaltungen und Tönen, nach ausgelösten Emotionen und inneren Bildern. Schließlich fragten wir uns, in welchen Epochen die jeweiligen Literaten wohl einzuordnen wären und stellten fest, dass wir „keine Ahnung“ hatten.
An dieser Stelle verließen wir unseren gedanklichen Pfad und ließen unseren Erzähl- und Gedankenfluss zu einem neuen Schwerpunkt fließen. Darüber will ich an einer anderen Stelle schreiben.

Während eines späteren Telefongesprächs mit einem Freund fiel mein Blick erneut auf eines der Gedichte, die ich meiner Freundin beispielhaft vorgelesen hatte. Die Datei lag noch geöffnet auf meinem Laptop. Es war das Gedicht „Die Sache mit den Klößen“ von Erich Kästner, welches ich wegen seines „Tonfalls“ zunächst irrtümlich Joachim Ringelnatz zugeordnet hatte.

Ich erzählte beiläufig davon, ohne es zu rezitieren und schickte es dem Freund im Anschluss an unser Telefonat. Seine Antwort führte mich auf weitere Bildungspfade.
Er schrieb nur eine Zeile: „Es erinnere ihn an die Waldorfschule.“ – womit er sehr vermutlich einen gewissen Unbill zum Ausdruck bringen wollte. Für mich offensichtlich konnte er nicht recht etwas anfangen mit „den Klößen“.

Ob meines oben bereits erwähnten ureigenen Ordnungssystems prüfte ich seine Aussage unabhängig dessen und stellte eine gewisse innere Dissonanz fest.
Folglich suchte ich zunächst nach üblichen Gedichten für die Waldorfschule und fand schließlich die Morgensprüche von Rudolf Steiner. Ich verglich „Tonfall“ und Aussage zwischen Kästner und Steiner und fand mich bestätigt: eindeutig zwei Paar Schuh‘. Aber zurück zum Eigentlichen!
Nachdem ich mich über die Unterschiede der Texte und meine Einordnung ausgelassen hatte, wandte ich mich nun Erich Kästner zu.

Es stand unter anderem die Frage nach dem eigentlichen Hintergrund der „Klöße“ und ihres Urhebers in meinem Gedankenraum.
Wer war eigentlich Erich Kästner und welcher Literaturepoche ist er wohl zuzuordnen? Was war sein ursprüngliches Motiv für dieses Gedicht und welchem Zweck mag es wohl zugedacht gewesen sein?

Das Gedicht klingt nach einem lustigen Kinderreim, in den eine kleine „Moralie“ verpackt ist. Frei nach dem Motto: „Niemand mag Angeber.“
Die Assoziation meines Telefonfreundes war also problemlos nachzuvollziehen. Auch seine Abneigung gegen allzu flache „Kalenderspruchmoral“ konnte und kann ich unterschreiben.
Aber was ich dann im Hintergrund der Kloßgeschichte entdeckte, empfinde ich als eine Art Geniestreich.

…von verborgenen Schätzen
Erich Kästner wird der Epoche „Neue Sachlichkeit“ zugeordnet und das Gedicht entstand 1936 – also zu Zeiten des Nationalsozialismus‘ in Deutschland. Es kommt leichtfertig als Kindergedicht daher und birgt dennoch eine deutliche Kritik an Narzissmus und Überheblichkeit. Genau wie ein Narzisst ist Peter wenig selbstreflektiert. Er ist blind für seinen Größenwahn und hält seine Behauptung bis zum bitteren Ende durch.
Er behauptet 30 Klöße essen zu können und als er dies unter Beweis stellen soll, rudert er nicht zurück sondern, isst „tapfer“ Kloß um Kloß. Schließlich kippt er stöhnend von der Küchenbank und muss ins Krankenhaus.
Wenn man bedenkt, dass Erich Kästner unter den Nationalsozialisten verboten war, und nachliest, dass er zeitweilig auf leichtere humoristische Inhalte auswich, um den Repressalien zu entgehen, dann bekommt das Gedicht eine ganz neue Facette.
Vor diesem Hintergrund wird die Satire sichtbar und die unschuldige Erscheinung in Form eines Kindergedichtes bekommt eine andere Farbe.

Die Idee, Texte einfach und eingänglich zu schreiben, ist nicht neu.
So beschrieb zum Beispiel der Ire Jonathan Swift in Gullivers Reisen gesellschaftliche Missstände etwas verblümt und bot so mit unschuldiger, kindlich anmutender Erzählweise der damaligen Zensur die Stirn.
Leider blieb es bis heute dabei, dass die meisten Menschen Gullivers Reisen als eine kurzweilige Kindergeschichte (er)kennen. Hierdurch geht eine gewisse Tiefe und Chance zur Bildung verloren – bedauerlich, wie ich meine. Bedauerlich nicht zuletzt um der Demokratie willen – denn wenn ein Volk regieren, also seinen Lebensraum maßgeblich mitgestalten will, dann wäre Bildung nicht nur nützlich, sondern notwendig, denke ich.

Derartige Texte sollten nicht mit rührseligen Geschichten von ökonomisch orientierten Textkritzlern verwechselt werden, welche in rosamundiger Manier dem Volk nach seinem vorgeprägten Hirn stammeln.
Nichts für ungut, aber hier zöge ich wohl eine scharfe Linie zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Literatur und Bildungssurrogat, zwischen Konsumieren und Erleben. Kunst muss und sollte nicht brotlos sein, aber sie sollte immer dem Menschlichen im besten Sinne, dem Lebendigen dienen und niemals dem schnöden Mammon.
Ein letztes Beispiel:
Auch „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende wurde durch die Einordnung in die Kategorie Kindergeschichten verflacht.
Kalendersprüche sind oberflächliches Bla-Bla, wenn man sie nicht verstanden hat. Aber diese Texte offenbaren Haltungen und Konstrukte; sie kritisieren, interpretieren und visionieren Ideen und Gedanken, die zu diskutieren es sich lohnt. Dem Gleichgewicht und der Bildung zur Liebe…

your Choice – take it – take care