In einem Podcast wurde ich heute auf den Begriff „toxische Positivität“ aufmerksam. Kritisiert wurde der unterschwellige Zwang zu stets guter Laune, positiver Sichtweise und guten Gefühlen. Ich denke da an eine Mitschülerin unter deren Profil in der Abschlusszeitung „penetrant gute Laune“ stand. An bunt und weit gekleidete Damen, die einander leicht affektiert ihre Begeisterung um die Ohren schlagen oder an den ein oder anderen Mitmenschen, der oder die mit verhaltenem Stolz verkündet „harmoniesüchtig“ zu sein und es deswegen eben immer allen schön machen wollte.
Und ich denke an Ruth Cohn, die einmal in etwa gesagt haben soll, dass viele Menschen nicht „wüssten“, dass auch Trauer, Ärger, Angst und Unsicherheit zum Leben dazu gehören würden. „Das Leben ist kein Ponyhof“ mag der eine oder die andere postulieren, das stimmt; UND möchte ich hinzufügen, es ist auch kein Schlachtfeld, zumindest muss es das nicht sein. Das Leben ist erst einmal einfach da, es ist, wie es ist.
Uns begegnen Dinge, Menschen, Ereignisse. Wir machen Erfahrungen, lernen, erinnern und vergessen. Wir bewerten aus Gewohnheit meist alles, was uns begegnet: Ist es neutral, dann bemerken wir es vielleicht kaum, fällt es uns auf, dann scannt unser Organismus blitzschnell, ob eine Bedrohung oder vielleicht auch eine Belohnung anstehen könnte. Danach reagieren wir, oft unmittelbar, manchmal bewusst, meist eindeutig.
Im Grunde wäre es gut, wenn man die Welt als einen grundsätzlich freundlichen Ort wahrnehmen würde, wenn man optimistisch und kreativ zugewandt auf Menschen und Umstände reagieren würde.
Toxische Positivität aber ist etwas anderes. Sie blendet Missstände aus, überzieht die Welt mit Zuckerwatte, reagiert überempfindlich und wirkt nicht selten passiv agressiv. Die Not eines Menschen nicht anzuerkennen, sie als unberechtigt oder negativ abzuwerten, ist eine Form schmerzhafter Ignoranz. Jegliche Missstände mit allzu freundlicher Attitüde zu übertönen, ist sich selbst oder anderen gegenüber alles andere als liebevoll, freundlich oder positiv.
Intuitiv bemerken wir die kognitive Dissonanz zwischen radegebrochener Süßholzraspelei oder angestrengt lächelnder Schönfärberei und dem darunter verdeckten Misthaufen. Auch wenn sie noch so viel Zuckerwatte auf einen Hundehaufen schichten, er stinkt darunter hervor.
Manchmal werden Menschen angestrengt positiv, wenn sie mit den vermeintlich negativen Gefühlen nicht zurechtkommen. Dann darf nicht sein, was nicht ins schöne harmonische Bild passt.
Vor allem an besonderen Anlässen wie Familienfeiern, Ostern, Weihnachten, Hochzeiten oder zu anderen wichtigen Ereignissen kommt die Harmoniesucht zum Ausdruck. Es soll alles schön sein, perfekt, wie im Fernsehen, harmonisch – schick, charmant und abwaschbar…
Was dabei heraus kommt, ist nicht selten ein Desaster! Jede/r kennt das und Loriot hat sehr viele wunderbare Kurzfilmchen dazu gedreht.
Passiv – und dann auch aktiv – agressiv kommt die Toxizität in der Cancel-Kultur und im Snowflakedasein zum Ausdruck. Da werden Menschen in Bedeutungs- und Absichtskontexte gepresst, die sie nicht gewählt und auch nicht verinnerlicht haben. Sie werden verurteilt, ausgeladen, beschimpft, ja sogar bekämpft, indem man ihre Äußerungen oder ihren Ausdruck quasi dämonisiert und entsprechend entrüstet bekämpft.
Möglicherweise trägt jemand, vollkommen arglos und aus Sympathie für eine bestimmte Kultur die „falsche“ Frisur, trägt die „falschen“ Schuhe oder benutzt einen Begriff, den jemand anderes als beleidigend empfindet. Die ursprüngliche Absicht wird nicht mehr geprüft, der oder die Betroffene wird genötigt, sich von etwas zu distanzieren, was er oder sie möglicherweise niemals angenommen hatte. Eine Form der Be- und Eingrenzung, die ich als gewaltsam und fragwürdig empfinde, ja als Zensur, manchmal auch als Diktatur des Geistes.
Allein diese oben beschriebene Aussage könnte mich disqualifizieren, das erzeugt in mir Wut und Ohnmacht – aber ja, diese beiden Gefühle sind ja auch nicht erwünscht – wie schade! Wie schade, dass wir einander nicht versöhnlicher und lösungsorientierter ansehen und begegnen. Wie schade, dass man die tiefen Töne aus der Harmonie des Lebens streichen möchte… Ich halte es für äußerst gefährlich, wenn wir versuchen den Schatten aus dem (Er)leben zu streichen. Zuerst sind es nur die tiefen Schwarztöne, dann aber erscheinen die dunkelgrauen ebenso als zu dunkel und am Ende ist selbst das helle Grau schon untragbar…
Lieber möchte ich hinsehen, unbedingt, mit mutigen Sinnen, liebevoll, lösungsorientiert, klar und unerschrocken. Mich über das Schöne freuen, mich über das Unschöne ärgern, wütend, traurig, unperfekt, naiv und kritisch sein, menschlich sein, jeden Tag lebendig sein.
Gewalt lehne ich ab, aber besiegen werden wir sie nicht, indem wir versuchen, die Schatten aus unserer Welt zu streichen. Umarme die Schatten, dann werden sie dich lehren, das Licht zu schätzen. Du musst sie nicht lieben, aber wir alle müssen mit ihnen leben. Und wenn man Licht ins Dunkel bringen möchte, dann sollte man keine Mauer darum bauen.
Harmoniesucht schafft keine Harmonie sondern Krieg. Ich halte es für unabdingbar, dass wir lernen mit allen Facetten des Daseins umzugehen, sie auszuhalten, am besten gemeinsam. Was denken Sie?
your choice, take it, take care!